Trauerrede

aus Anlass der Trauerfeier für meine am 2.8.2013 verstorbene Schwester Inge, beerdigt am 9.8. in Gelsenkirchen.

Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.

Aber wir können Dich nicht mehr umarmen.

(Wir können nicht mehr spüren, welch eine Kraft das haben kann, wie unerklärbar ungeheuer spirituell solch ein Vorgang des Umarmens sein kann.)

Trauern ist einer der intimsten Vorgänge, die uns ereilen können, die Erinnerung produzieren, ohne die wir am Ende nicht leben können. Das geht niemanden etwas an, niemanden. Egal, wie, wo, wann und warum wir trauern.

Je älter wir werden, desto mehr Vergangenheit erfreut und belastet uns und kein Mausklick lässt sie verschwinden.

Ende der 80er wurde ein Teil Deiner Lebensgeschichte Vorlage für den Fernsehfilm von Michael Klaus: Schluss! Aus! Feierabend! Es ging um Trennung, Verlust und Neuanfänge. All der Scheiß, den unser Leben ausmacht. Und jetzt ist aus den drei Ausrufezeichen Wirklichkeit geworden. Der Vorhang ist geschlossen.

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Die Familie hat sich Gedanken gemacht, wie man diesen letzten Auftritt per Inserat ankündigt. Wir haben uns für Bertolt Brechts Wort entschieden. Auch ein paar andere Zitate waren im Spiel, die Dir möglicherweise gefallen hätten oder eine Wahrheit aussprächen.

 

„Ich will Gesang, will Spiel und Tanz, / will, dass man sich wie toll vergnügt, / wenn man mich untern Rasen pflügt.“
Klaus Hoffmann (*1952), dt. Schauspieler u. Liedermacher

 

Leuchtende Tage.
Nicht weinen, dass sie vorüber.
Lächeln, dass sie gewesen!
Konfuzius

Man lebt zweimal:
das erste Mal in der Wirklichkeit,
das zweite Mal in der Erinnerung.
Honoré de Balzac (1799-1850)

Das sind die Starken, die unter Tränen lachen, eigene Sorgen verbergen und andere glücklich machen.
Franz Grillparzer

Außer Konkurrenz ist noch Dein mutmaßlich eigner Vorschlag

Für die, die an Wiedergeburt glauben: Ich werde ein Eichhörnchen sein.

Tragödie und Komödie liegen oft eng beieinander. Vor allem in Deinem Leben.

Als damals 2007 Dein Mann Klaus hier zu Grabe getragen wurde, hat sich der zuständige Friedhofsmann schlichtweg auf dem Weg zum Grab auf dem Friedhof verlaufen, samt Trauergemeinde.

Erlaubt mir ein paar Worte und zwei kurze Szenen aus dem Leben.

Wir haben ein paar Jahre den gleichen Namen geteilt, dann haben wir gemeinsam die Welt des Rock n Roll entdeckt, ich als Knabe, Du als Teenager.

Ich war Trauzeuge bei einem, nur Schwager bei den anderen Gatten.

Wir haben uns eine Kneipe geteilt. Ich als Bruder, Du als die Wirtin

Aber Du warst mehr, warst auch
Seelentrösterin,
Schwester,
Vorlage für einen Roman, ein Drehbuch und Gedichte,
Fußabtreter,
Mutter, Witwe und Großmutter,
Ehefrau und Vertraute,
Sängerin und Nachtschwester,
Frühschoppen-Begleiterin
oder Rausschmeißerin,
Freundin und Nachbarin,
Geheimnisträgerin,
Kollegin und Zeitgenossin,
Agnes Kopleck und Bühnenwitwe
Zuhörerin,

zuletzt in ornithologischer Fortbildung auf ihrem Balkon, die den Vögeln und allem, was kreucht und fleucht zugehört hat.

Als ich gestern zum letzten Mal auf Deinem Parterre-Balkon saß, wimmelte es von Singvögeln, die unnatürlich nah kamen, im Anflug eine Kurve machten, wieder abdrehten, zwitscherten und stritten. Eichelhäher, Meise, Drossel, Rotkehlchen, Kleiber, eine Taube. Der Hahn des Nachbarn krähte auffällig zur falschen Zeit.

Es schien als wären sie vertrauensvoll im Anflug auf die Blumenkästen, um Dir ihr tägliches Konzert zu geben. Verzeiht diese romantisch-melancholische Idee, aber es schien so.

Die Bühnen wechselten. Erst die Kneipe, dann das Theater, letztlich jetzt hier.

………………………

Eines Tages in der Kneipe I

Inge zapft ein Pils. Einige Gäste am Tisch, einer auf der Sitzbank links an der Theke, der da immer sitzt.

Bruder liest Zeitung.

Inge: „Ich soll in einem Theaterstück mitspielen.“

Sie bringt ein Bier zum Tisch. Kommt wieder.

Inge: „Ich bin doch nicht bekloppt.“

Bruder: „Ich bin auch bekloppt.“

Sie bringt ein Bier weg samt Schnäpschen. Kommt wieder.

„Den Text hab ich schon. Lern ich nie. Ich kann doch nich mehr lernen. Mit 50. Wie kommen die da drauf, mich zu fragen? Nee, nee.“

Bruder: „Mach doch“

Inge: „Nee, meinste?“

Bruder: „Worum geht et denn?

Sie zapft ein Pils. Steckt sich eine an.

Inge: „Weiß ich auch nich. Um sonne Familie. Kopleck heißen die. Und ich heiß Agnes.“

Bruder: „Du heißt Inge.“

Inge: „Haste recht. Mach ich nicht. Ich wollte sagen: Kann ich nicht. Guck mal hier, wie viel Text das ist“

Bruder: „Ist Theater. Da wird gesprochen und das nennt man Text. So ist das.“

Pause

Inge:“ Ich glaub, ich mach das. Das glaubt mir keiner. Jetzt noch auffe Bühne.“

Bruder: „Heidi Kabel ist 98.“

Sie bringt ein Pils zum Tisch. Kommt wieder.

Inge: „Mit 50! Ich bin doch nicht bekloppt.“

Bruder liest lese Zeitung. Inge blättert im Manuskript. Die Tür geht auf.

Inge: „Ohje. Guckma. Bedien Du die da. Herbert und der mit’m appen Ärmel. Da sind wieder die Bekloppten. Beide auf einmal. Is heut Vollmond?“

Sie setzt sich, liest im Manuskript. Lacht.

Eines Tages in der Kneipe II – vor 17 Jahren
Nachmittag. Draußen is nass. Einer sitzt auf der Bank anner Theke links. Der, der immer da sitzt.
Tür geht auf. Kommt einer rein.

„Der war noch nie da“, sagt Inge, die gerade frische Frikadellen aus der Küche geholt hat.

„Sind dat Frikadellen?“, fragt der Gast in einer zu der Zeit noch undurchschaubaren Stimmung.

„Wat glaubst Du denn? Gegrillte Schrumpfköppe?“

„Jau, jau, mach ma eine fettich. Mit Senf. Und n Pils mit nem Kurzen dabei.“

Inge serviert ihm die Frikadelle, zapft das Pils, stellt ihm schon mal den Kurzen hin. Sie weiß, wie das ist. Eigentlich will der Typ nur n Schnaps trinken, hat aber ein schlechtes Gewissen, will nicht, dass man meint, er sei ein Schnapstrinker. So wird die Bestellung mit ner Frikadelle garniert, zu der man schon mal n Pilsken trinkt. Der Schnaps ist nur so dabei…wie aufm Brötchen das Salatblatt. Er kippt also den Schnaps, wobei sich vorher seine Lippen kurz nach vorn stülpen. Dann beißt er in die Frikadelle und nippt vom Bier.

Während er die Frikadelle in den Senf tunkt, sodass mehr Senf als Frikadelle zu sehen ist, erzählt er Inge sein halbes Leben. Er kommt vom Gericht.

Inge liest im Manuskript vom Theaterstück.

„Meine Alte hat die Scheidung eingereicht und jetzt bin ich geschieden.“ Sagt er. Seine Augen flitzen die Pullen im Regal entlang.

Inge lacht. Sie ist gerade im Stück an der Stelle, wo sie sagen muss: „Ich mach uns ein paar Schnittchen.“

Der Typ an der Theke hält sein leeres Schnapsglas hoch und ruft: „Mach noch einen fettich, auf ein Bein kann ich nich stehn.“

Nicht nur der Mensch ist verschwunden, gleich auch ein ganzes Kunstwerk. Beides wird als eine Erinnerung neu in uns entstehen, die wir zurückbleiben.

Wenn alle Mensch-Materie versagt und zusammenfällt, bleibt nur die Seele. Wer weiß, ob nicht ein Windzug davon zeugt, dass sie lächelnd uns umweht?

Gedenkt Ihrer lange – mit Nachsicht, mit Freude, mit Andacht. Und lasst den Tränen ihren Lauf

Und vergesst nicht, Euch zu umarmen

Danke.

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